Geschichten


Oblivion 2006
25.03.2006

Endlich war der große Tag gekommen. Bereits kurz vor neun Uhr morgens wanderte mein Blick immer wieder zum Telefon, das allerdings partout nicht klingeln wollte. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis ich mir endlich ein Herz nahm und selbst beim Mediacenter anrief.
“Oblivion? Na klar, das Spiel haben wir seit gestern Abend schon auf Lager!”
Nur zwanzig Minuten später hielt ich kurzatmig, aber glücklich mein Exemplar in Händen. Die Collectors Edition! Schnell noch im Aldi nebenan einige Lebensmittel und Getränke eingekauft, dann konnte das Nonstop-Oblivion-Wochenende beginnen. Zuhause angekommen stöpselte ich zunächst einmal das Telefon aus, zog die Vorhänge im Wohnzimmer zu und löschte das Licht, bevor ich schließlich mit zittrigen Händen das Spiel installierte und nach langen Monaten des Wartens endlich Oblivion spielen konnte. Bereits bei der Eröffnungsmusik lief mir ein wohliger Schauer nach dem anderen über den Rücken. Ich spürte, wie sich meine Nackenhärchen über der Gänsehaut aufrichteten und meine Augen schließlich feucht wurden, doch ich schämte mich meiner Tränen nicht. Nein! Ich wusste genau: Nichts würde mich nun noch davon abhalten können, dieses Spiel zu spielen, bis mein Kopf auf die Tastatur zu fallen drohte und ich mich nur noch mithilfe von zwei Streichhölzern und Unmengen von frisch gebrühten, rabenschwarzen Kaffees auf den Beinen halten konnte. Ich hatte an alles gedacht. Wirklich an alles?
Die ersten Stunden verbrachte ich staunend damit, durch die wunderbare Welt Cyrodiils zu wandern, während ich insgeheim meinen Eltern auf den Knien dafür dankte, dass sie mir diesen neuen Computer ermöglicht hatten. Dann begann ich damit, der Hauptstory zu folgen. Ich saß gerade daran, die Stadt Kvatch zu befreien, als es an der Haustür klingelte.
Nein, heute lässt du keinen rein, dachte ich. Wenn es wirklich wichtig ist, kommt der wieder und wenn nicht, dann war es einfach nicht wichtig genug.
Dann hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Nur einen Augenblick später stand im Rahmen meiner Wohnzimmertür der einzige Grund, der noch zwischen mir und einem ungetrübten Spielvergnügen stand: Angelika, meine Freundin und die einzige Person, die außer mir noch einen Schlüssel zu meiner Wohnung besaß. Mist! Im Geiste machte ich mir die Notiz, dass ich bei nächster Gelegenheit entweder das Schloss auswechseln lassen oder versuchen musste, ihr unauffällig das schmale Stück Metall wieder abzunehmen.
“Du bist ja doch da! Hast du eigentlich keine Ohren am Kopf?”
Das Licht im Zimmer leuchtete auf, die Illusion von Cyrodiil war im gleichen Augenblick zerstört. Ich blinzelte. Da stand sie nun vor mir: schwarze Stiefeletten, enge Jeans (wahrscheinlich mit dem Schuhlöffel angezogen), ein knapp sitzendes schwarzes Top und ein kleines Jäckchen mit hohem Kunstfellbesatz, auf dem ihr dunkles Haar in langen Wellen thronte. Ihr Make-up war unaufdringlich, doch reizvoll, was man von ihren hellblauen Augen nicht gerade behaupten konnte, die mich mit einer Mischung von unverhohlener Wut und maßloser Enttäuschung fixierten.
“Weißt du eigentlich, wie oft ich heute versucht habe, dich anzurufen?” Sie ging zwei Schritte und riss den Vorhang wieder auf. Durchs Fenster sah ich einen sternenübersäten Himmel, der fast so schön war wie der in Cyrodiil. Sie bückte sich kurz, was mich in den Genuss zweier wohlgeformter, aber ein wenig asymmetrischer Pobacken kommen ließ, und griff nach dem Telefonkabel, wobei sie etwas murmelte, das stark nach “… das hätte ich mir doch denken können …“ klang.
“Sag mal, hast du etwa vergessen, dass wir beide heute Abend ein Date haben?”
Vergessen? Nein. Verdrängt traf es schon eher …
“Anstatt mit mir essen zu gehen, um anschließend romantisch den Sternenhimmel zu betrachten, wie du es mir versprochen hast, sitzt du hier vor dieser blöden Kiste und … was ist das überhaupt?”
Ich räusperte mich.
“Das, meine Liebe, ist Oblivion, das wahrscheinlich beste Offline-Rollenspiel, das in diesem Jahr herausgekommen ist. Ich habe mehr als ein Jahr ungeduldig darauf gewartet, eine Release-Verschiebung überlebt und jeden noch so kleinen Fetzen Information verschlungen, den es darüber gab! Und wenn du mir mal öfter genau zugehört hättest, statt dir ständig die Nägel zu lackieren oder ähnliches, dann wüsstest du das auch! Es tut mir leid, aber ich habe heute absolut keine Zeit für dich! Und auch nicht morgen und erst recht nicht übermorgen. Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du gleich den Vorhang wieder zuziehen, das Licht ausmachen und schließlich deinen hübschen kleinen Arsch aus meiner Wohnung bewegen würdest!!!”
Meine Stimme, die anfangs noch beherrscht und ruhig klang, hatte zum Ende meiner Ausführung hin deutlich an Lautstärke zugenommen, bis Angelika letztlich bei jedem Wort deutlich zusammenzuckte. Tief ausatmend wandte ich mich wieder meinem 19-Zoll-Flachbildschirm zu, auf dem der Held von Kvatch gerade dabei gewesen war, einige Skamps in den wohlverdienten ewigen Ruhestand zu schicken, bevor er so rüde von Angelika unterbrochen worden war. Nur wenige Momente später fühlte ich ihren Atem in meinem Nacken, gefolgt von zwei Armen, die sich um meine Brust schlängelten, um mir die Ankunft der beiden gefährlichsten Waffen einer Frau anzukündigen: ihrer Brüste. Durch den dünnen Stoff des Tops konnte ich ihre aufgerichteten Brustwarzen spüren, die sie mit voller Absicht ganz langsam über meinen Rücken hin zur Schulter wandern ließ. Das war Angelikas übliche Masche, wenn sie mich zu etwas überreden wollte und meistens hatte sie damit auch Erfolg. Heute nicht.
“Was ist denn an diesem Spiel so besonderes?”, fragte sie gurrend. ”Wir beide können doch auch sehr viel Spaß miteinander haben ...”
Nein, heute bekommst du mich nicht rum, dachte ich entschlossen.
“Nun, Angelika”, antwortete ich, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, während ich vorsichtig, aber bestimmt ihre Hände von meiner Brust schob, was mir nicht leicht fiel. “Im Gegensatz zu dir macht dieses Spiel einfach so Spaß”, knurrte ich. “Ich muss es nicht erst zum Essen ausführen und dann mit ihm den Sternenhimmel betrachten, wenn ich es mal vögeln will. Und es hat keine Migräne, wenn ich endlich das Programm soweit hinter mir habe und selbst zum Zug kommen will! Das macht dieses Spiel zu etwas Besonderem …”
Ein wütendes Schnauben, das Klackern ihrer Pfennigabsätze auf dem Laminat und das Knallen der Wohnungstür war das letzte, was ich von Angelika an diesem Abend und wohl in den nächsten drei Wochen zu hören bekommen sollte. Hoffentlich hatte sie keine Löcher ins Laminat gestanzt. Nun, das zu überprüfen hatte auch bis morgen Zeit …
Ich seufzte. Sie hatte das Licht angelassen und der Vorhang war auch noch offen. Alles musste man selber machen. Bevor ich das Wohnzimmerfenster wieder mit der Stoffbahn abdunkelte, warf ich noch einen Blick in den Sternenhimmel. Gerade in diesem Moment zog eine Sternschnuppe gut sichtbar am Himmel vorbei. Durfte man sich nicht etwas wünschen, wenn man eine Sternschnuppe sah? Ich schloss die Augen und murmelte im Stillen einen Wunsch, von dem ich wusste, dass er nie in Erfüllung gehen würde.
In dieser Nacht träumte ich von den Weiten Cyrodiils mit seinen wogenden Gräsern, den endlosen Ebenen und der kaiserlichen Hauptstadt, deren Zinnen und Gemäuer in der untergehenden Sonne silberblau erstrahlten, während ich auf einem Felsvorsprung eines bewaldeten Berges hockte und meinen Blick in die Ferne schweifen ließ. Diese Welt wartete nur darauf, von mir entdeckt zu werden und beim nächsten tiefen Atemzug wusste ich genau, dass ich dort angekommen war, wo ich immer schon sein wollte: zu Hause …

Ich erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen und dem unbestimmten Gefühl, dass ich nicht in meinem komfortablen Bett mit den weichen Daunenkissen und der warmen Überdecke lag. Ich fror. War ich etwa im Schlaf aus meinem Bett gerollt, ohne es zu merken, und hatte die Nacht auf dem harten Boden verbracht?
Meine Augen blieben geschlossen. Konzentriert versuchte ich den Geräuschen zu lauschen, die mich jeden Morgen aus dem unbestimmten Dämmerzustand begleiteten, der irgendwo zwischen Schlaf und Wachsein lag: sanftes Vogelgezwitscher vor meinem Schlafzimmerfenster, den vertrauten Motorengeräuschen der vorbeifahrenden Fahrzeuge und dem Klingeln von BoFrost, dessen Lieferwagen jeden Samstagmorgen pünktlich um halb zehn seine Runden durch unser Viertel drehte.
Ich nahm nichts davon wahr. Das Einzige, was ich vernahm, war das entfernte Tröpfeln von Wasser und ein unbestimmtes Knistern, als raschele jemand im selben Raum mit dem Einwickelpapier von Süßigkeiten. Irgendwo in der Nähe quietschte eine rostige Tür und ich hörte Metall, das kreischend über anderes Metall schabte und dann Schritte. Sie kamen näher. Schritte, deren Wucht von den Wänden widerhallte und den steinernen Untergrund zum Knirschen brachte. Schritte, die ich in meiner Wohnung eigentlich nicht hätte hören dürfen.
“Steh auf, Dunmer!”
Der Tritt traf mich vollkommen unvorbereitet. Ich versuchte zu schreien, als der Schmerz durch meinen Körper raste, doch die Rippen, welche der schwere eiserne Stiefel getroffen hatte, quetschten meine Lunge dermaßen ein, dass nur ein gequältes Keuchen über meine Lippen kam. Ich war mit einmal hellwach. Durch den Schleier aus Tränen, der meine Augen benetzte, erkannte ich einen steinernen Untergrund, auf dem eine dreckige und verlauste Schlafmatte lag. Der Ort, an dem ich mich befand, wurde nur dürftig durch den Schein einer Fackel erhellt, die in der hinteren Ecke in einer Verankerung steckte und deren Knistern ich bereits mit geschlossenen Augen vernommen hatte. Das flackernde Licht der Fackel beschien massive Steinquader, die roh und unfertig wirkten und über die der helle Widerschein von Feuchtigkeit glänzte, welche ihren Weg durch die notdürftig verputzten Zwischenräume fand.
Das Verlies war nicht groß, doch es fand sich darin genügend Platz für einen ungeschlachten Tisch, der wie das misslungene Gesellenstück eines Stümpers von Tischler wirkte. Auf diesem standen ein einfacher Becher, ein Teller mit Sprüngen und ein Krug; alle aus demselben braunen irdenen Material. Auf der gegenüberliegenden Seite hingen rostige Ketten mit Handschellen von der Decke, die nicht gerade vertrauenerweckend aussahen. Langsam pendelten sie klirrend hin und her und kamen nur allmählich wieder zur Ruhe, nachdem sie von der massiven Gestalt, die sich in diesem Moment über mich beugte, in Bewegung gesetzt worden waren.
Das Gesicht, das sich nun auf gleicher Augenhöhe wie meines befand, wenn auch auf horizontaler Ebene, war grobporig und ungepflegt. Unter dem eisernen Helm hingen einige fettige Strähnen pechschwarzen Haares mitten in das Gesicht hinein und bedeckten fast vollständig eines der tiefblauen Augen, die mit einem Ausdruck von Härte und herablassender Belustigung auf mir ruhten. Neben dem schmallippigen Mund und den vereinzelten Bartstoppeln, die sich auf dem unteren Gesichtsteil verirrt zu haben schienen und zusammen noch nicht einmal den Anschein eines Schattens erwecken konnten, war das auffälligste Merkmal in diesem Gesicht die wulstig rote Narbe auf der linken Wange. Sie zog sich, unterhalb der Augenhöhle beginnend, über die gesamte linke Gesichtshälfte hinweg und endete nur knapp oberhalb des Mundes, wo sie eine natürliche Verlängerung der Lippen zu bilden schien.
“Was ist, Dunmer? Betrachtest du die Narbe?“ Der Atem des Mannes stank fürchterlich: nach Branntwein und den unbestimmbaren Überresten von mehreren Mahlzeiten, die unbehelligt zwischen den gelblichen Zähnen steckten und dort allmählich zu verrotten begannen. “Ja, schau nur, was du mir damals angetan hast, als du dich der Verhaftung widersetzt hast! Ich werde es nie vergessen”, zischte er leise und ein weiterer Tritt traf mich am Oberschenkel. “Und du solltest es auch nicht, denn diese Narbe wird das Letzte sein, das du siehst, bevor du vor das Angesicht von Akatosh trittst! Bete darum, dass er sich gnädiger erweisen wird, als ich es tue!”
Ich zuckte zusammen, als er noch einmal näher kam, doch der erwartete Schmerz blieb aus. Boshaft grinsend wandte er sich von mir ab und knallte einen Krug auf den Tisch, der mit frischem Wasser gefüllt war, das über den Rand hinwegschwappte und von dem trockenen Holz begierig aufgesogen wurde. Mit der Rechten ergriff er einen hölzernen Schöpflöffel und klatschte aus einem dampfenden Kupferkessel eine undefinierbare Masse auf den Teller.
“Frühstück …”, höhnte er und warf einen Blick auf meine Gestalt. “Eine reine Verschwendung, wenn du mich fragst.” Lachend verließ er die Zelle durch den halbovalen Ausgang, während die Gittertür hinter ihm scheppernd ins Schloss fiel. Ich hörte sein Lachen noch, nachdem er selbst schon längst aus meinem Blickfeld verschwunden war.
Gierig stürzte ich mich auf den Teller und aß und trank. Ich wusste nicht, was ich da zu mir nahm, doch ich verspürte tief in meinem Inneren einen beißenden und unbändigen Hunger, dem ich einfach nachgeben musste. Erst nachdem ich den letzten Klumpen Essbares vom Holztisch gekratzt und von den Fingern geleckt hatte, war ich wieder in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen.
Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich selbst näher zu betrachten, soweit es mir möglich war. Der Anblick, der sich mir bot, war nicht gerade ermutigend: ich sah einen abgemagerten Körper, der von einer zerfledderten Leinenhose, die sich nur mithilfe eines Strickes an Ort und Stelle hielt, und einem leinenen Hemd bedeckt wurde, das auch schon bessere Tage gesehen hatte und grauenhaft juckte. Sowohl meine Hände als auch meine Füße steckten in metallenen Fesseln, die anscheinend bei Bedarf jederzeit an den Ketten des Verlieses befestigt werden konnten. Die Haut darunter war entzündet und geschwollen. Vorsichtig tasteten meine Hände den Oberkörper ab, an dem ich jede Rippe einzeln fühlen konnte, inklusive der zwei, die so unliebsame und schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Stiefel gemacht hatten. Mein Haar, das halblang über die Schulter hing, war schmutzig und struppig. Es bedeckte nur teilweise die langen spitzen Ohren, die hinter ein paar geflochtenen Haarzöpfen hervorlugten.
Ich hatte die eiserne Rüstung, deren unzählige Beulen und Schrammen von den ungezählten Kämpfen ihres Trägers Zeugnis ablegten, fast sofort erkannt: Sie gehörte zur Standardausrüstung einer kaiserlichen Wache und ich befand mich demnach anscheinend im tiefsten Verlies, das sich in der imperialen Hauptstadt Tamriels finden ließ. Mein Wunsch hatte sich erfüllt: Ich war in Cyrodiil! Nun, nicht gerade an dem Ort, wo ich mich gern aufgehalten hätte; da konnte ich mir wahrlich lauschigere Plätze vorstellen. Wehmut überkam mich, als ich die hintere Wand zum Fenster hochsah, wo die Sonne Tamriels durch die Gitterstäbe unbehelligt ihren Weg in meine Zelle fand und hinter denen die Freiheit begann, die für mich momentan unerreichbar war.
Ich seufzte und wandte mich um. Durch die Gitterstäbe meiner Zellentür konnte ich einen Blick in die gegenüberliegende Zelle werfen. Sie war leer und der Eingang geöffnet. Wie konnte das sein? Soweit ich mich erinnern konnte, saß doch zu Beginn ein anderer Gefangener in dieser Zelle, der einen nicht gerade mit freundlichen und aufmunternden Worten bedachte, sondern nur Worte dafür fand, was er mit meiner Freundin in Vvardenfell anstellen würde, sollte er demnächst rauskommen. War dies vielleicht ein völlig anderes Gefängnis? Was war mit dem Gefangenen geschehen? Ich musste es in Erfahrung bringen …
“Wache!” Ich rüttelte wild an den angerosteten Stäben, bis man mir endlich Beachtung schenkte. Ein junger Mann in kaiserlicher Rüstung, etwas verschwitzt und ohne Helm, erschien, fuhr sich durch sein kurzes weizenblondes Haar und warf mir einen genervten, doch nicht unfreundlichen Blick zu.
“Was ist denn nun schon wieder?”, fluchte er unwirsch.
“Was ist mit dem anderen Gefangenen passiert, dem, der mir gegenüber einsaß?”
Die Wache grinste.
“Hast du es denn noch nicht gehört? Der ist geflohen, zusammen mit Uriel Septim, unserem Kaiser, Akatosh sei seiner Seele gnädig! Du bist jetzt der einzige Gefangene hier, Valen Dreth!”
Nein! Das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein!
Die Erkenntnis brach über mir herein wie das Jüngste Gericht. Ich war nicht der Held, der dazu bestimmt war, die Welt Tamriels von der Bedrohung durch die Obliviontore zu befreien und den verschollenen letzten Nachkommen von Uriel Septim zu finden und zu seiner wahren Bestimmung zu führen. Nein, ich war der Gefangene von nebenan, der mit unflätigen Worten jeden beschimpfte, der es wagte, ihm zu nahe zu treten.
„Du dreckiger Hund!", fing ich an zu sprechen und es war, als fänden die Worte allein ihren Weg über meine Lippen.
"Ich sage dir, ich werde schon bald hier rauskommen. Meine Zeit ist schon fast um, und es gibt nichts, was du noch dagegen tun kannst.“
„Ja, wie viele Jahre waren es jetzt? Sieben, acht Jahre? Du und ich wir hatten eine gute Zeit zusammen. Ich muss zugeben, ich werde dich vermissen, Dreth. Die Schläge spät in der Nacht und deine erbärmlichen Schreie nach Hilfe … Ich wusste, dass es eines Tages mal enden würde …“
„Elf! Elf Jahre bin ich bereits in diesem rattenverseuchten Loch! Aber im Gegensatz zu dir werde ich hier rauskommen, während du hier weiter festsitzt! Hahaha!“
„Ach ja? Und wohin willst du dann gehen? He? Was willst du dann anstellen? Du kannst da draußen nicht überleben, Dreth. Du bist ein Tier! Du gehörst in diesen Käfig …“
„Ich werde an deine Worte zurückdenken, wenn ich mit deiner Frau an den Stränden der Summerset Inseln liege, du kaiserliches Schwein!“
„Richtig, und du wirst unermesslich reich sein … Oh, und natürlich wirst du dann ein König sein. Weißt du, was ich denke, Dreth? Ich denke du wirst zurückkommen. Sie alle kommen wieder zurück …“
„Das werden wir ja sehen, du kaiserlicher Hund! Wenn ich hier erst raus bin, wird ganz Tamriel meinen Namen kennen! Valen Dreth! Valen Dreth!“
Ich lachte lauthals.
„Ja, ja! Ich bin wirklich versucht, dich schon gleich raus zu lassen, wenn du nur deine verdammte Klappe halten würdest …“ Die Wache verließ kopfschüttelnd den Zellentrakt. Ernüchtert setzte ich mich auf den steinernen Boden, wo ich nach einer kurzen grüblerischen Zeit in einen dämmrigen Halbschlaf fiel, aus dem mich erst ein ungewohntes Geräusch wecken konnte. Es kam aus der gegenüberliegenden Zelle und einen Augenblick später, als sich meine Augen wieder an die bestehenden Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte ich auch den Grund für dieses Geräusch. Es war ein Mann, der durch eine Öffnung innerhalb der Zellenwand geschlichen kam. Er trug eine eng anliegende leichte Rüstung aus einem lederartigen Material, das mit vielen Schnallen und Riemen besetzt war. Eine dunkle Kappe bedeckte sein Haar und warf einen tiefen Schatten über das Gesicht, das so unerkannt blieb. Über seiner Schulter hing ein Köcher mit einigen Pfeilen. Den dazugehörigen eisernen Bogen hielt der Fremde schussbereit in der Hand. Geduckt näherte er sich meiner Zelle, wobei er sich vorsichtig nach beiden Seiten absicherte und sich dann vollends aufrichtete, nachdem er sicher sein konnte, dass im Moment keinerlei Gefahr drohte.
Langsam warf der Fremde die Kappe zurück und zeigte mir sein Gesicht, das von einer Flut leuchtend roter Haare umrahmt wurde. Ich kannte es!
“Amandil”, flüsterte ich.
Unbeeindruckt davon, dass ich seinen Namen kannte, spannte der Waldelf seinen Bogen und flüsterte: “Sithis verlangt es!”
Ich schloss die Augen und erwartete bebend den Pfeil, der von der Sehne schnellend im nächsten Augenblick den Weg in mein Herz finden würde, doch der Augenblick verstrich und ich lebte immer noch.
Als ich die Augen wieder öffnete, war mein Gegenüber verschwunden, doch nur kurze Zeit darauf hörte ich seine leise Stimme, die mich aufforderte, von der Zellentür zurückzutreten. Ich tat, wie mir geheißen und hörte, wie Amandil die Tür mit einem Schlüssel öffnete. Dann stand er vor mir.
“Nimm dies, du wirst es brauchen.” Mit diesen Worten steckte er mir einige Heiltränke, zwei Dietriche und ein Stück Pergament in die Hand. “Ich habe dir den Weg eingezeichnet, der durch die Kanalisation nach draußen führt! Bleibe im Dunkeln und achte auf die Wachen! Akatosh möge mit dir sein!”
Er wandte sich ab. Ich griff nach seinem Arm.
“Warum tust du das? Warum hast du mich nicht getötet?”
Ein Lächeln huschte über seine sanften, fast femininen Gesichtszüge.
“Ich verschonte dein Leben, weil es mir richtig erschien!” Er griff nach einem Dolch, und bevor ich mich auch nur rühren konnte, glitt die Klinge über meinen Unterarm. Blut quoll aus dem tiefen Schnitt und glänzte im Widerschein der Fackel rotgolden auf der Schneide. Befriedigt betrachtete er das Ergebnis.
“Eigentlich verlangt Sithis deinen Tod, doch ich denke, ich werde seine Gelüste auch mit deinem Blut besänftigen können. Akatosh allein weiß, ob mir die Täuschung gelingt und welchen Preis ich dafür zu zahlen habe, sollte mein Schwindel auffliegen. Du solltest jetzt besser gehen, bevor eine Wache hier unten auftaucht!”
Die Heiltränke an meine Brust pressend stolperte ich vorwärts und sah noch einmal zurück, wo ich Amandil in der Zelle, in der ich den Tod finden sollte, einen Zauber wirken sah. Kurz darauf zog er einen Körper, der meinem sehr ähnelte, tief ins Innere der Zelle. Ohne mich ein weiteres Mal umzusehen, hastete ich durch die Zelle in den geheimen Gang und nahm den Weg, den auch schon Kaiser Uriel Septim gegangen war. Schließlich, nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, stand ich endlich im Freien, die unendlichen Weiten der Wälder und Wiesen Cyrodiils vor mir. Die Sonne Tamriels schien warm und freundlich in mein Gesicht. Ich war frei …

(Dan)



Witchers News, Jg. 3, Nr. 15 vom 01.02.2011, S. 22-28


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