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Geschichten
Rabenherz
Kapitel 15
Es schüttete schon seit Tagen beinahe ununterbrochen. Und das in Strömen. Regen wie lange Bindfäden fiel vom Himmel, tropfte von den Bäumen und machte den ganzen Waldboden matschig. Alles war grau und düster. Dieses grausige Wetter spiegelte wider, was ich im Moment fühlte. Trauer… Und die Sehnsucht nach Tuomas war seit unserem Treffen noch größer geworden. Jetzt, da ich wusste, wie es war, als Mensch mit ihm zusammen zu sein, fiel es mir noch viel schwerer, von ihm getrennt zu sein. Und wegen des Regens konnte ich ihn nicht einmal als Rabe besuchen kommen. Ich war wieder einmal dazu verdammt zu warten. Dabei hasste ich das Warten doch so sehr. Ich war schon immer ungeduldig gewesen und meine Geduld wurde in diesen Tagen leider auf eine harte Probe gestellt. Bei diesem Wetter konnte ich mich nicht einmal mit Ausflügen ablenken.
Von meinem Platz auf dem Fensterbrett konnte ich Miro gut beobachten, der es sich mit einem Buch und einer warmen Decke auf seinem Lesesessel bequem gemacht hatte. Er schien jedoch nicht wirklich bei der Sache zu sein, er sah eher nachdenklich aus. Jedoch konnte ich nicht sehen, was er dachte, da er seine Gedanken im Moment abgeschirmt hatte. Wenigstens schien er sich nicht so zu langweilen wie ich.
Miro war wirklich in Gedanken versunken. Er sah von seinem Buch auf und warf einen kurzen Blick auf Sulka. Sie wohnte nun schon so lange hier mit ihm, dass er sich an die Zeit vor ihr kaum noch erinnern konnte. Er wusste nur noch, dass er einsam gewesen war. Sehr einsam… Doch er entsann sich noch gut an den Tag, als Sulka - oder besser Janni - an diesem Ort angekommen war.
... „Miro? … Schatz komm her, ich hab dir wen mitgebracht!“ Miro sah auf, als er die Stimme seiner Mutter vernahm, die nun die Halle erreicht, in der er gerade auf dem riesigen Teppich saß und mit seinem Chemiebaukasten spielte.
Eila führte ein Mädchen an der Hand, das sich eingeschüchtert umblickte. Sie hatte schönes, blondes Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war, trug ein rotes Rüschenkleidchen und kleine, ebenfalls rote Lackschühchen. Mit ihrer anderen Hand drückte sie einen schon etwas mitgenommen aussehenden Teddybären fest gegen ihren zierlichen Körper.
Ihre großen blauen Augen, welche ihn sofort faszinierten, blickten nun zu ihm und musterten ihn ebenfalls. Miro erhob sich erstaunt und kam langsam näher. Was wollte das Mädchen hier? „Wer ist das, Mutter?“, fragte er und schaute zu Eila auf.
„Das ist Janni“, antwortete diese. „Sie hat keine Eltern mehr und war sehr einsam, also habe ich beschlossen, dass sie bei uns wohnen wird, damit du jemanden hast, mit dem du spielen kannst.“ Sie lächelte ihn freundlich an.
Nun machte auch Miro große Augen. Dieses Mädchen… Janni… Würde hier wohnen? Dann wäre er ja endlich nicht mehr so alleine! Das hatte er sich schon so lange gewünscht! „Na, freust du dich?“ Eila blickte ihren Sohn an, der sogleich begeistert nickte und dann wieder zu Janni schaute. „Hallo Janni. Ich bin Miro“, stellte er sich strahlend lächelnd vor und streckte Janni freudig die Hand entgegen, welche diese leicht zögernd nahm, nachdem sie Eilas losgelassen hatte. „Hallo Miro“, entgegnete sie mit leiser Stimme und erwiderte Miros Lächeln leicht. „Komm, ich zeig dir mein Zimmer. Es wird dir sicher gefallen!“, sprach Miro schon weiter. Er wollte Janni so schnell wie möglich sein Zuhause zeigen. Sie sollte sich hier schließlich wohl fühlen und alles kennenlernen.
Janni warf Eila einen Blick zu. Diese nickte: „Geht ruhig. Ich hole euch später zum Essen.“
Und schon hatte Miro das Mädchen mitgezogen, um ihr sein eigenes Reich zu zeigen.
... Es dauerte nicht lange, bis Janni sich eingelebt hatte. Sie und Miro verstanden sich von Anfang an sehr gut, worüber er sehr froh war. Er war so glücklich darüber, jemanden zu haben, mit dem er reden und spielen konnte und er genoss jede Sekunde, die er mit Janni verbringen durfte.
Janni bekam von Eila auch ein eigenes Zimmer in der Nähe ihres Schlafgemachs eingerichtet, das das Mädchen jedoch hauptsächlich zum Schlafen nutzte. Wenn das Wetter mitspielte, hielten sich die beiden die meiste Zeit im Freien auf. Oder sie saßen in Miros Hütte, welche Janni viel gemütlicher fand als ihr eigenes Zimmer.
Sie verbrachten Stunden damit, im Wald umherzustreifen, ihn zu erkunden und darin z.B. Fangen oder Verstecken zu spielen. Janni war unschlagbar im Verstecken, unter anderem auch, da sie so klein war. Miro brauchte meist ewig, bis er sie gefunden hatte. Es war auch schon vorgekommen, dass er sie gar nicht gefunden hatte.
Ihr Leben war zu dieser Zeit unbeschwert und frei und sogar Eila war anders gewesen. Nämlich wie eine richtige Mutter. Sie behandelte Janni wie ihre eigene Tochter und liebte es, sie zu verwöhnen. Zum Beispiel hatte sie ihr immer neue, hübsche Kleider mitgebracht, die durch ihre Waldausflüge jedoch sehr oft gewaschen und ersetzt werden mussten. Auch erzählte sie Janni viele Geschichten, während Eila sie beispielsweise frisierte, denen das Mädchen mit großer Begeisterung lauschte.
Und Miro erinnerte sich auch noch daran, wie sie in der Haupthalle vor dem Kamin gesessen hatten und von seiner Mutter unterrichtet wurden…
Es war eine schöne Zeit gewesen.
Das alles erschien ihm heute so unwirklich, dass er es kaum noch glauben konnte. Eila hatte sich in den Jahren so sehr verändert. Und ebenso sein Verhältnis zu Janni. Anfangs war sie seine kleine Schwester, doch mit den Jahren merkte er, dass sich etwas veränderte. Je älter die beiden wurden, desto inniger wurde ihr Verhältnis und irgendwann musste Miro sich eingestehen, dass er mehr für Janni empfand als nur geschwisterliche Liebe. Doch Janni hatte ihn immer nur als Bruder und besten Freund gesehen.
Er erinnerte sich an einen Moment im Wald, als er Janni gerade die Runen gelehrt hatte. Er war damals 15 und Janni 13 gewesen.
... Es war ein wunderschöner Sommertag. Die Sonne schien hell und warm durch das dichte Blätterdach und zauberte fantastische Lichtspiele auf den Waldboden. Man hörte die Libellen am nahegelegenen Bach summen, die Vögel zwitschern und jede Menge anderer Tiere im Unterholz rascheln.
Janni und Miro saßen im Gras auf einer Lichtung. Vor ihnen lagen Steine, in die verschiedene Runen eingeritzt waren. Miro wollte Janni auf ihren Wunsch hin beibringen, sie zu lesen.
Dies fiel ihm jedoch schwerer als gedacht. Denn was er auch tat, er konnte seine Augen einfach nicht von Janni lassen. Wie sie da saß, die Haare ihr offen ins Gesicht fielen, ihre blauen Augen strahlten und ihr Mund freudig lächelte… Er fand sie einfach unglaublich schön. Das war ihm natürlich schon öfter aufgefallen, doch heute fiel es ihm aus irgendeinem Grund noch stärker auf und er konnte nichts dagegen tun, er musste sie einfach ansehen.
„Was ist das für eine Rune?“ Er wurde schlagartig aus seinen Gedanken gerissen, als er Jannis Stimme hören konnte. „Was? … Ääähm… Welche meinst du denn?“
„Diese hier.“ Janni beugte sich etwas vor, um auf eine Rune zu zeigen, die etwas weiter hinten lag. Dabei kam sie Miro näher. Etwas zu nah in seiner Verfassung… Doch er durfte sich seine Nervosität nicht anmerken lassen. Er sah sich die Rune an. „Das… das ist die MAN-Rune. Sie… steht für Liebe und für Freundschaft“, antwortete er. Auch noch ausgerechnet diese Rune. Als wolle ihm das Schicksal damit verhöhnen… „Schöne Bedeutung.“ Janni zeigte ihr bezauberndes Lächeln.
Ihre seidigen, langen Haare hingen in ihr Gesicht. Miro nahm gar nicht wahr, dass er die Hand danach ausgestreckt und angefangen hatte, mit einer Strähne davon zu spielen. Er ließ sie sich langsam und behutsam durch die Finger gleiten. Sie waren so weich… Und glänzten wie flüssiges Gold und… „Miro? Was machst du denn da?“ Schon wieder riss ihn Jannis Stimme aus seinen Gedanken und sofort zog er seine Hand wieder weg. „Och, ich… ähm… gar nichts. Die… sind nur… so schön weich und… ich… konnte einfach nicht widerstehen“, stotterte er mit roten Wangen und zwang sich zu einem Lächeln, das jedoch etwas gequält aussah. Peinlich… sehr peinlich!
Doch Janni schien das gar nichts auszumachen. „Du bist heute ziemlich leicht abzulenken“, stellte sie nur mit einem frechen Schmunzeln im Gesicht fest. Miro lief noch etwas röter an. „Jaa, das… kann gut sein… Ich weiß auch nicht was mit mir los ist…“, log er. Janni sah ihn weiter an. „Vielleicht sollten wir besser morgen weitermachen“, meinte sie, doch Miro war nicht imstande, ihr zu antworten, denn er war wieder wie gebannt. Dieses Lächeln, dieses wunderschöne Lächeln … Und diese leuchtenden Augen, die ihn anblickten, ihre weiße Marmorhaut, die er im Moment nur zu gerne berührt hätte… Dieses Mädchen machte ihn einfach verrückt. Und sie war ihm so nah… zu nah… viel zu nah! … Das war nicht gut. Gaaar nicht gut…
„Miro! Janni! Kommt rein, es gibt Essen!“, erklang auf einmal die Stimme seiner Mutter. Gott sei Dank, das war seine Rettung! Sie hatte ihn aus seiner Trance gerissen, bevor er irgendwas getan hatte, das er später bestimmt bereut hätte. “Sind schon unterwegs!“, rief er zurück. So schnell er konnte sprang der Junge auf und bevor die verwunderte Janni noch etwas erwidern konnte, flitzte er schon in Richtung der Höhle.
Witchers News, Jg. 3, Nr. 20 vom 01.12.2011, S. 30-33
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