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Rabenherz


Kapitel 17

Miro schlenderte gemütlich durch die Höhle. Er hatte beschlossen, sich die Zeit in der Bibliothek zu vertreiben, denn Sulka war wieder einmal ausgeflogen und er hatte keine Lust alleine hinauszugehen, auch wenn das Wetter heute schön war. Die Fackeln leuchteten ihm den Weg durch die verzweigten Gänge, die er schon so oft entlanggegangen war und mittlerweile in und auswendig kannte. Er war schließlich hier aufgewachsen und schon als Kind alleine - oder mit Janni - durch die Höhle gestreift. Es hatte den beiden großen Spaß gemacht und sie hatten immer gehofft, etwas Neues zu entdecken. Für die beiden Kinder war ihr Zuhause wie ein riesiger Abenteuerspielplatz gewesen, der immer wieder neue Überraschungen und Geheimnisse enthüllte.

Als Miro gerade an Eilas Schlafzimmer vorbeilief, kam ihm einer dieser Streifzüge in den Sinn. Janni und er hatten sich in Eilas Reich geschlichen, was dieser allerdings gar nicht gefallen hatte…

„Janni, was machst du denn, wir dürfen hier doch nicht rein!“ - „Sie merkt es doch nicht, stell dich nicht so an!“ Janni zog Miro leicht am Ärmel, wollte ihn dazu zu bringen, ihr zu folgen, doch der Junge versuchte standhaft zu bleiben. „Wir kriegen bestimmt Ärger…“, setzte er an, aber Janni ließ sich nicht beirren. „Komm schon, Miiiro!“ Sie drehte sich um und blickte ihn flehend aus ihren großen, blauen Augen an. „Bitteeee.“ Sie wusste genau, was sie tat, denn im Betteln war sie schon immer eine Meisterin gewesen und wusste auch, dass Miro diesem Blick einfach nicht standhalten konnte, egal, was er auch versuchte. Widerwillig gab er also schließlich nach. „Naaa gut, aber du bist schuld, wenn sie uns erwischt!“ Er versuchte so streng wie möglich zu klingen. Janni jedoch grinste nur triumphierend und drehte sich wieder um, um durch die bereits geöffnete Türe zu schlüpfen.

Sie betraten das große Zimmer und blickten sich aufmerksam darin um. So genau hatte er sich Eilas Reich noch nie angesehen. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großes, bequem ausschauendes Himmelbett mit seidener, roter Bettwäsche und vielen Kissen in unterschiedlichen Größen. Das Bett war aus rotbraunem, schön gemustertem Holz gebaut. Die beiden Nachttischchen, welche links und rechts daneben standen, waren aus demselben Holz gefertigt. Rechts an der Wand befand sich ein schön gearbeiteter Schminktisch auf dem, ordentlich aufgereiht, viele Tuben, Schächtelchen und Dosen, sowie auch etliche Parfümfläschchen standen. Direkt über dem Tisch hing ein ovaler, in Silber eingefasster, antiker Spiegel und davor stand ein kleiner, hölzerner Hocker. Auf der linken Seite gelangte man durch einen hölzernen Bogen in einen separaten, kleineren Raum. In diesem befanden sich ein riesiger Kleiderschrank sowie ein großer Standspiegel. Auf diesen Raum steuerte Janni sogleich zu. Miro folgte ihr etwas langsamer.

Als er durch den Bogen trat, hatte Janni schon die Türen des Kleiderschranks geöffnet und schaute verzückt in dessen Inneres. Miro trat neben sie. „Sooo viele tolle Kleider!“, schwärmte das Mädchen mit leuchtenden Augen und streckte die Hand nach einem kurzen, dunkelblauen Seidenkleid aus, um es durch die Finger gleiten zu lassen. „In dem hier schaut sie immer soo hübsch aus.“ - „Ja, Mama hat tolle Kleider, aber können wir jetzt wieder gehen? Wenn sie uns entdeckt…“ Janni unterbrach ihn: „Miro, sei doch nicht immer so ein Angsthase.“ Sie hatte das Kleid aus dem Schrank geholt und betrachte es wieder. „Ob es mir auch so gut steht wie ihr?“, sprach sie mehr zu sich selbst und ließ ihren Worten sogleich Taten folgen, indem sie sich das Kleid kurzerhand über den Kopf zog. „Janni…“, setzte Miro an, doch Janni beachtete ihn nicht mehr. Begeistert blickte sie an sich hinunter. Das Kleid war ihr zwar viel zu groß, es hing bis zum Boden, doch das machte Janni nichts aus. Lachend drehte sie sich im Kreis und schien auch schon die nächste Idee zu haben, denn sie lief nun wieder aus dem Umkleideraum ins Schlafzimmer, um dort den Schminktisch genauer in Betracht zu nehmen. Miro hatte inzwischen eingesehen, dass es nichts brachte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen, auch wenn er noch immer ein sehr mulmiges Gefühl hatte und am liebsten auf dem schnellsten Weg von hier verschwinden würde.

„Schau Miro, bin ich jetzt auch so schön wie Mama?“ Er drehte sich wieder zu Janni, welche sich an Eilas Schminke zu schaffen gemacht hatte. Die Lippen hatte sie knallrot angemalt – oder es zumindest versucht - und etwas Rouge auf die Wangen getupft. Außerdem hatte sie ihre Augenlider mit blauem Lidschatten angemalt. Sie sah – musste er ehrlich zugeben – eher aus wie ein Clown.

Miro wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als auf einmal die Tür hinter ihm aufging und seine Mutter den Raum betrat. Miro zuckte heftig zusammen, als er sie erblickte…

Janni und Miro hatten daraufhin zwei Wochen Hausarrest bekommen, was beide nur schwer ertragen hatten, da der Frühling gerade angefangen hatte. Doch Hausarrest war nichts gegen die heutigen Strafen. Eila hatte sich so sehr verändert. Er wünschte oft, sie wäre wieder mehr wie früher. Denn auch wenn sie damals schon streng gewesen war, hatten die beiden eine schöne Kindheit gehabt, die er nicht missen wollte.

Inzwischen hatte er auch die Bibliothek erreicht. Er liebte diesen Raum mit seinen riesigen Regalen aus dunklem Holz, die teilweise bis hin zur steinernen Decke reichten. Die obersten Regalbretter erreichte man demnach nur durch Leitern, die durch an den Regalen angebrachten Schienen bewegt werden konnten. In der Bibliothek gab es hunderte Bücher, manche davon waren schon sehr alt und es würde Jahre brauchen, um sie alle zu lesen. Ob Eila wirklich jedes einzelne davon kannte?

Den Raum erhellten unzählige Kerzen sowie ein großer Leuchter an der Decke. Zum Lesen konnte man es sich auf dem großen Sofa aus grünem Samt oder einem der dazu passenden Sessel bequem machen. Miro steuerte auf eines der Regale zu, um sich dort ein Buch auszusuchen.

(Ani)

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Witchers News, Jg. 4, Nr. 24 vom 01.08.2012, S. 26-28


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