Review


Good Old Games

Die Witchers Journal Retrospektive


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Im Jahre 2000 sah die Spielewelt für Fans von Adventure-Games ziemlich düster aus, denn nicht zum ersten Mal in der Geschichte der PC-Spiele wurde das Genre der Adventure für tot erklärt. Die zunehmende Begeisterung für Action-Spiele und Shooter machten es den Entwicklern nicht gerade leicht, denn die großen Spielehersteller mieden damals das Genre Adventure wie der Teufel das Weihwasser. Zu teuer seien sie in der Entwicklung und der Gewinn dementsprechend zu gering, war stets die Begründung.
Deshalb war für alle Liebhaber jedes neue Adventure, das zu der Zeit angekündigt wurde, wirklich ein Großereignis. Schade nur, dass viele von diesen Adventures entweder frühzeitig gecancelt wurden, bevor sie überhaupt erscheinen konnten, oder, falls sie doch erschienen, nicht mehr als schlechte Durchschnittskost waren.
Das sollte sich im besagten Jahr 2000 ändern, als der norwegische Entwickler und Publisher Funcom „The Longest Journey“ herausbrachte. Funcom ist sicherlich vielen noch bekannt für MMORPGs wie „Anarchy Online“, „Age of Conan: Hyborian Adventures“ und seit 2012 für „The Secret World“ (Wir berichteten darüber in der Ausgabe 24 der Witchers News, welches seit einiger Zeit auch F2P ist.
„The Longest Journey" ist ein besonderes Adventure. Funcom scheute weder Kosten noch Mühen, um den Gamern ein Spiel zu präsentieren, das sehr aufwendig gestaltet war und Maßstäbe gesetzt hat, die für viele Genre-Anhänger noch bis heute gültig sind. Der Erfolg von „The Longest Journey“ führte 2006 zu einer Fortsetzung mit dem Titel „Dreamfall: The Longest Journey“. Die Trilogie wird voraussichtlich im November 2014 mit „Dreamfall Chapters“ ihren Abschluss finden.

Worum geht es nun in „The Longest Journey“ genau?

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Um nicht weniger als das Schicksal von gleich zwei Welten. Da ist zum einen Stark, eine nüchterne, technisierte und durchaus denkbare Zukunftsversion unserer Erde im Jahre 2209. Arcadia hingegen ist eine Welt, in der die Magie vorherrscht und die gleichermaßen von Menschen und Phantasiewesen bevölkert wird. Geschichten von pferdelosen Kutschen und himmelhohen Gebäuden aus Glas und Metall zählen hier zu den Mythen, während sie in Stark schon lange Realität sind. Die beiden Welten verhalten sich zueinander wie Ying und Yang. Keine kann ohne die andere existieren.

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Nur wenige Einwohner der beiden Welten wissen um die Existenz der jeweils anderen. Schon über tausend Jahre wacht ein sogenannter Hüter über das empfindliche Gleichgewicht zwischen Stark und Arcadia, doch nun hat der Hüter seinen Platz verlassen, ohne dass ein Nachfolger bereitsteht. Das Gleichgewicht ist in Gefahr und die Grenze zwischen den Welten wird dünn und durchlässig. Chaos und Zerstörung drohen, denn Magie und Technik können zwar nebeneinander existieren, aber nicht miteinander.

Das Schicksal der beiden Welten lastet nun auf unseren Schultern. Genauer gesagt auf der Schulter der jungen hübschen Hauptprotagonistin mit dem Namen April Ryan. Diese ist zu Beginn des Spiels nach Newport gezogen, eine (fiktive) Großstadt an der Westküste Nordamerikas im Jahre 2209. Hier möchte sie an der VAVA, der Venice Academy of Visual Arts, Kunst studieren und bereitet sich schon seit einigen Monaten auf die Aufnahmeprüfung vor. April verdient sich ihren Unterhalt als Kellnerin im Fringe Café und hat auch bereits einige gute Freunde gefunden. Das Leben könnte so schön sein, wenn da nicht diese seltsamen Träume wären, die sie seit einigen Nächten immer wieder in eine völlig unbekannte Welt mit seltsamen Wesen, wie sprechenden Drachen und Baumgeistern, entführen und an Orte bringt, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hat. Ihre Freunde können ihr nicht helfen, denn es sind doch nur Träume. Oder etwa nicht?

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Im Laufe der Zeit wird es für April immer schwieriger, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Erlebnisse aus der Traumwelt manifestieren sich mit zunehmender Häufigkeit und Tragweite in der Realität und schlagen Wellen in Aprils Umfeld. Erst der in die Jahre gekommene und ziemlich exzentrische Latino Cortez klärt sie über die Ursachen ihrer Träume auf und über die Rolle, die ihr zugedacht ist. April ist eine Reisende und nur sie kann zwischen den beiden Welten hin- und herwandern. Ihre Aufgabe ist es, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn eine mächtige Organisation will, dass das Chaos herrscht, um beide Welten kontrollieren zu können. So begibt April sich auf die Suche nach dem Hüter und nicht zuletzt auf die Suche nach sich selbst – es soll ihre längste Reise werden.

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„The Longest Journey“ ist ein klassisches Point-und-Click-Adventure, welches vom Spieler vollständig mit der Maus gespielt werden kann. Die Steuerung dieses 3rd-Person-Spieles ist sehr intuitiv – der Spieler muss nicht erst seitenlang irgendein Handbuch wälzen, um alle Funktionen zu lernen. Der Cursor ist in der Regel ein dunkelblauer Pfeil, der hell aufleuchtet, wenn es etwas zu untersuchen gibt. In diesem Fall öffnet sich mit einem Linksklick ein elegant gestaltetes Kontextmenü und hier kann zwischen dem Augen-Icon, um April zu einer Erklärung zu bewegen, dem Mund-Icon, damit April jemanden anspricht bzw. etwas isst oder in den Mund nimmt, und dem Hand-Icon, um Gegenstände aufzunehmen/zu manipulieren gewählt werden. Sollte lediglich eine bestimmte Funktion an einem Hotspot verfügbar sein, verwandelt sich der Cursor von allein in ein Auge zum Anschauen oder eine Hand zum Aufnehmen bzw. Berühren. Schließlich verfärbt sich der Cursorpfeil rot, um mögliche Szenenausgänge kenntlich zu machen. Sollte der Spieler mal den Ausgang nicht finden, hilft ihm ein Druck auf die X-Taste und prompt werden alle verfügbaren Ausgänge auf dem Bildschirm markiert.
Das Inventar in Form einer Truhe befindet sich in der oberen linken Bildschirmecke. Mit einem Linksklick wählt der Spieler eines der Fundstücke aus und führt es über das gewünschte Objekt. Ist es das richtige, leuchtet es auf und kann mit einem weiteren Klick verwendet werden. Sollte es das falsche sein, haben die Entwickler es leicht gemacht, den Inventarinhalt durchzuprobieren, indem mit der A- oder S-Taste die anderen Gegenstände durchgescrollt werden können.
Falsch kann mit dieser Vorgehensweise nichts gemacht werden, denn es gibt kein klassisches „Game Over“ wie in anderen Spielen, wenn sich mal ein Fehler einschleicht. Die „Trial-and-Error“ Methode funktioniert immer, auch wenn in brenzligen Situationen im Spiel trotzdem ab und an ein wenig Hektik und Panik ausbrechen können, die aber vollkommen unnötig sind. Es zeigt nur, wie emotional „The Longest Journey“ den Spieler mitnimmt. Ein weiterer Pluspunkt, den das Adventure-Game für sich verbuchen kann.

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Die meisten Adventures, die vor allem in den 90ern des letzten Jahrhunderts entstanden, wie zum Beispiel „Monkey Island“, stellten die Hauptprotagonisten als Comicfiguren vor ebensolchen Hintergründen dar. In „The Longest Journey“ agieren die Personen nicht im Comicstyle, sondern als naturalistische Rendercharaktere in 3D vor sparsam animierten, doch recht hübsch anzusehenden 3D-Hintergründen mit feststehenden Kamerapositionen.
Die Rätsel in „The Longest Journey“ sind immer fair und auch schon für Adventure-Neulinge geeignet. Sie variieren zwar im Laufe des Spieles im Schwierigkeitsgrad, sind aber gut und logisch in die Story und die Umgebung eingebunden. Lediglich bei ein oder zwei Rätseln muss der Spieler schon ein wenig um die Ecke denken, doch ein Blick in eine der unzähligen Lösungen im Internet hilft bestimmt weiter.
Der Hauptteil der Knobeleien im Game besteht aus Inventarrätseln, die ein genaues Untersuchen der unzähligen Fundstücke, die sich in der Inventartruhe bereits angesammelt haben, nötig macht. Es lohnt sich deshalb immer, wirklich alles zu sammeln, was im Spiel nicht niet- und nagelfest ist. Auch die Kombination oder Demontage gewisser Gegenstände findet in der Truhe statt. Der Cursor zeigt immer an, ob etwas zusammengefügt oder voneinander getrennt werden kann. Abwechslung von den Inventarrätseln bieten Maschinen-, Kodier-, Kombinations- und die allseits bekannten Beschaffungs- und Dialogrätsel.
Der Spieler hat eine Menge Freiheit in der Art, wie er die Rätsel lösen will, obwohl die Story an sich schon ziemlich linear ist. Bei der Beschaffung mancher Gegenstände steht es ihm frei, die Gegenstände dann einzusammeln, wenn er sie entdeckt und nicht erst dann, wenn April die Stelle gefunden hat, an der sie angewendet werden müssen. Suboptimal allerdings sind manchmal die detaillierten Hintergrundkulissen, bei denen der Spieler mit dem Cursor durchaus das eine oder andere wichtige, aber zu klein geratene Detail übersehen kann. An dieser Stelle sollte er nicht frustriert aufgeben, denn meist wirkt ein Blick in die Komplettlösung oder in ein Forum Wunder.

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Zum Schluss verraten wir, wie man gleich zu Beginn den Prolog von „The Longest Journey“ löst:

Wir entdecken unsere Heldin April Ryan auf einem hohen Felsenplateau stehend, von wo sie auf eine herrliche Landschaft herabblicken kann.
Auf diesem Plateau steht ein alter, ausgetrockneter Baum. Rechts von ihm hört man Wasser rauschen, das allerdings durch äußere Einwirkungen seinen Lauf verändert hat und deshalb nicht mehr den Baum mit dem lebenswichtigen Nass versorgt. Während sie noch den Baum betrachtet, rollt aus einem Nest im Baum ein riesiges Ei. Nur die hervorstehenden Wurzeln des Baumes verhindern, dass es über den Rand des Plateaus in die Tiefe fällt.
April untersucht das Nest und findet eine lange Schuppe. Am Baum hängt ein alter Ast, den sie abbricht. Der Geist des Baumes erwacht dadurch zum Leben und beginnt ein Gespräch mit April. Der Baum verspricht April, das Ei zu retten, wenn sie ihm hilft, wieder an das Wasser zu gelangen.
Zu diesem Zweck kombiniert sie die Schuppe und den Ast miteinander, sodass sie eine Art Wasserleitung erhält. Mit dieser überbrückt sie nun die Spalte zwischen dem sprudelnden Wasserlauf und dem alten Baum. Dann spricht sie noch einmal mit dem Baum und erinnert ihn an sein Versprechen. Er rettet das Ei und ein weißer Drache erscheint, der sich als Aprils Mutter vorstellt. Schließlich erscheint ein schwarzer Strudel, unsere Heldin stürzt in die Tiefe und erwacht.

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„The Longest Journey“ erschien in Deutschland am 20.03.2000 und wurde von allen Windows-Versionen einschließlich Windows XP unterstützt.
Das Spiel wurde von Kritikern für seine überzeugende Darstellung der fantastischen und futuristischen Schauplätze gelobt. Auch die Übersetzung aus dem Norwegischen in zehn verschiedene Sprachen nahm man mit Wohlwollen auf. Einer der wenigen Kritikpunkte, die von Experten und Medien bemängelt wurden, waren die reichlich ausgedehnten Dialoge, die sich aus fast 8300 einzelnen Aufnahmen zusammensetzten. Es gehörte schon ein gutes Maß an Geduld dazu, um diese nicht einfach wegzuklicken, doch der Spieler wurde durchaus mit einer ausgefeilten Story und interessanten Dialogen belohnt, wenn er dies nicht tat.
„The Longest Journey“ ist auch heute noch für absolut akzeptable Preise bei Amazon, Ebay und gog.com, allerdings hier nur auf Englisch, zu erwerben.
Wer Spaß an gut durchdachten Rätseln, liebevoll gestalteten Schauplätzen und informativen, wenn auch manchmal ausschweifenden Dialogen hat, sollte zu „The Longest Journey“ greifen.

(Dan)

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Witchers Journal, Jg. 2, Nr. 4 vom 01.06.2014, S. 16-20


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