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Geschichten
Der Weihnachtshasser
Weihnachten. Alle Jahre wieder, wie gleichnamiges Lied bereits androht, steht es wieder einmal vor der Tür: das Fest der Liebe. Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Pustekuchen! Wie sieht denn die Wahrheit aus? Bereits Ende August stehen die ersten Weihnachtskekse wie Spekulatius und Printen in den Kaufhäusern und im Laufe der nächsten Monate gesellen sich noch Marzipanbrote, Schokoweihnachtsmänner, Christstollen und all die anderen süßen Verführer hinzu, die wir dann noch über Monate auf unseren Hüften spazieren führen und die uns den wohlverdienten Sommerurlaub versauen, weil die Badehose oder der Bikini partout nicht mehr passen wollen.
Die Kaufhäuser sind grell geschmückt, und in den Fahrstühlen und den Verkaufsräumen laufen Weihnachtslieder in Endlosschleife. Ich schwöre, wenn ich noch einmal „Last Christmas“ von Wham höre, greife ich mir persönlich die nächste Verkaufskraft – die natürlich einer dieser dämlich aussehenden Weihnachtszipfelmützen trägt –, schleife sie zur nächsten Lautsprecherbox und zwinge die Ladenleitung mit gezogener Waffe, die Musik auf höchste Lautstärke zu stellen.
Nun gut, das werde ich natürlich nicht tun, doch man wird ja wohl noch träumen dürfen? Nicht wahr Media Markt, Saturn, Kaufhof und wie ihr alle heißen möget. Seid gewarnt!
Frieden auf Erden. Mal ganz davon abgesehen, dass sich Idioten weltweit auch zu Weihnachten wegen nichtiger Gründe weiterhin die Köpfe ein- oder abschlagen, so sehe ich auch die Menschen um mich herum gerade in der besinnlichen Adventszeit mit ganz anderen Augen. Mit Besinnung hat das ganze nämlich schon lange nichts mehr zu tun. Stattdessen herrschen überall Hektik, Verzweiflung und erbitterte Kämpfe um die letzten Exemplare der Unterhaltungselektronik, die sich irgendein Balg aus der Familie so sehnlichst wünscht. Einfordert wäre wohl die passendere Bezeichnung.
Braucht ein sechsjähriges Mädchen wirklich schon einen Computer, dessen Technik so ausgereift ist, dass die NASA damit 1969 auch noch weiter bis zum Mars hätte fliegen können? Oder ein zehnjähriger Junge ein Smartphone mit der angebissenen Frucht hinten drauf, der nie drangehen wird, wenn die Eltern anrufen und stattdessen lieber Videos auf YouTube hochlädt, wie zwei seiner Freunde seine sechsjährige Schwester zwingen, aus der Toilettenschüssel zu trinken, weil sie den neuen PC und er selbst nur das iPhone 3 – dazu noch gebraucht – bekommen hat?
Was schenkt man jemanden, der schon weit über achtzig und damit jenseits von gut und böse ist? Dessen Kellerräume von Geschenken überquellen, die man selbst im Laufe der Jahre mühsam und mit Liebe ausgesucht hat und die nun langsam in der Feuchtigkeit der klammen Kellermauern vor sich hin rotten? Eine Grabstelle? Einen Gutschein über einen Eichensarg? Wenn man nicht sofort enterbt werden möchte, dann sollte man solche Gedankenspiele wohl doch besser nicht in die Tat umsetzen.
Besonders amüsant in der Advents-- und Vorweihnachtszeit ist die Spezies Ehemann, die noch am letzten möglichen Tag, dem 24. Dezember nämlich, fast kopflos durch die Geschäfte irrt auf der Suche nach einem passenden Geschenk für ihre bessere Hälfte. Letztendlich zahlen sie dann doch wieder nur vollkommen überhöhte Preise für überschätzte Duftwässerchen und vergoldeten Tand bei Juwelieren und Parfümerien, stets dran denkend, wie schlecht das neue Bügeleisen im vorigen Jahr nicht nur der Ehe sondern auch dem eigenen Kopf bekommen war.
Ab und an taumelt ein solches Exemplar Mann auch noch nach Ende der Öffnungszeiten durch die menschenleeren Straßen und rüttelt im beginnenden Schneegestöber vergeblich an den Gitterrosten von längst geschlossenen Geschäften. Ich glaube, dass viele Männer, die sich angeblich nur eine Packung Zigaretten besorgen wollten, nur deshalb nie wieder nach Hause zurückgekehrt sind, weil sie keine Geschenke mehr bekommen haben. Lieber verbringen sie ihr restliches Leben unter den Brücken der Stadt, äußerlich gewärmt von brennenden Mülltonnen und innerlich von der Schnapsflasche im braunen Packpapier, als mit leeren Händen vor der Familie zu stehen.
Selbst jetzt, wo ich gemütlich und warm in der S-Bahn sitze, kann ich die Panik in den Augen der Menschen um mich herum sehen, in unterschiedlichen Abstufungen zwar, doch immerhin. Man kann regelrecht ihre Gedanken durch die Köpfe huschen hören:
„Habe ich auch an alles gedacht?“
„Hat Kai-Uwe auch an den Baum gedacht?“
„Wird die Gans rechtzeitig geliefert?“
„Holen wir Opa dieses Jahr mal aus dem Altersheim?“
Mir direkt gegenüber sitzt ein pickliger Teenager mit den obligatorischen Ohrstöpseln von Apple in den Ohren, der nebenbei – wie gut siebzig Prozent der anderen Fahrgäste in der Bahn auch – im Internet surft, auf Twitter postet, seinen Facebook-Account prüft oder sich ungeniert einen Porno anschaut. Was auch immer. Gerade hat die Bahn wieder angehalten und einen Schwall mit Paketen beladener, geplagter Menschen im Weihnachtsstress aufgenommen. Eine ältere Dame mit zwei wirklich schwer aussehenden Einkaufsnetzen stellt sich genau neben den pickligen Teenager und räuspert sich, was dieser aufgrund seiner iTunes-Beschallung natürlich überhaupt nicht mitbekommt. Oder einfach ignoriert. Die alte Lady hingegen gibt so schnell nicht auf. Sie hustet demonstrativ. Laut. Der Junge schaut auf, senkt seinen Blick jedoch gleich wieder. Da wird es der Dame zu bunt. Erst versetzt sie ihm einen derben Tritt gegen das Schienbein und greift dann nach seinen Ohrstöpseln, die sie ihm - begleitet von einem lauten Schmerzensschrei seinerseits – ungeniert aus den Ohren und dem Gerät zerrt und dann den Gang hinunter schleudert. Schließlich, als der Teenager laut maulend seinen Kopfhörern nachsetzt, damit sie unter den derben Schuhen der Mitreisenden keinen Schaden nehmen, setzt sich das alte Muttchen seelenruhig auf den so frei gewordenen Platz und lächelt. Unsere Blicke treffen sich kurz und sie zwinkert mir verschmitzt und äußerst selbst zufrieden zu. Wäre ich Besitzer eines Handys, dann hätte ich dieses Ereignis mit Sicherheit schon auf YouTube gepostet. Nun, ich bin sicher, irgendjemand in dieser S-Bahn hat das mit Sicherheit gerade getan. Vielleicht sollte ich später mal danach googlen …
Bestimmt denken Sie gerade, dass ich ein Weihnachthasser bin. Das trifft es nicht ganz. Ich habe Weihnachten mal geliebt. Der aufmerksame Leser hat natürlich sogleich die Vergangenheitsform bemerkt.
Tatsächlich hat es eine Zeit gegeben, in der ich naiv und voller Vorfreude der Adventszeit entgegen gefiebert habe und der Heiligabend überhaupt nicht schnell genug kommen konnte. Ein Junge, der in seinem Zimmer Geschenke für die Verwandtschaft bastelte, weil das Taschengeld äußerst knapp bemessen war, wenn es denn überhaupt ausgezahlt wurde. Der noch an den Weihnachtsmann glaubte und den Osterhasen und die Zahnfee, obwohl er bereits fünfzehn war. Was hatte nur dazu geführt, dass ein solcher Junge seinen Glauben an Weihnachten verlieren konnte?
Es geschah 1987.
Drei Jahre zuvor hatten meine Eltern eine sündhaft teure Gründerzeitvilla aus den zwanziger Jahren gekauft, die so riesig war, dass man dort tagelang durch die Räume spazieren konnte, ohne jemanden von der Familie zu treffen, vorausgesetzt, die anderen befanden sich auch gerade in Bewegung. Eigentlich gehörte uns die Villa auch gar nicht richtig, da die Bank, bei der meine Eltern das Ganze finanzierten, noch solange die Finger drauf hielt, bis alles abbezahlt war. Was wahrscheinlich noch vierzig Jahre oder mehr dauern konnte.
Auf alle Fälle war das Geld in den Folgejahren mehr als knapp und die Wünsche deshalb auch recht bescheiden. Besonders die meinen. Gezwungenermaßen. 1987 jedoch wollte ich unbedingt einen Computer. Nicht irgend einen, wohl bemerkt. Es musste schon der gerade neu auf dem Markt erschienene Amiga 500 sein, mit einer auf 7,09 MHz getakteten Motorola 68000-CPU, 512 KByte Arbeitsspeicher und natürlich mit AmigaOS als Betriebssystem. Der kostete ja auch nur schlappe 1200 Deutsche Mark. Mein Vater lachte nur einmal kurz spöttisch auf, als ich meinen Wunsch bereits im Oktober am sonntäglichen Frühstückstisch äußerte und damit war die Angelegenheit für ihn erledigt.
Eins jedoch hatte er nicht bedacht. Seitdem wir so hoch herrschaftlich wohnten, hatte sich unsere zahlreiche Verwandtschaft angewöhnt, den Heiligabend in unserem bescheidenen Domizil zu verbringen, dem einzigen Ort, wo sich alle treffen konnten, ohne sich gegenseitig ständig auf die Füße zu treten. Dies stellte natürlich meine Mutter logistisch gesehen vor Herausforderungen, die eigentlich überhaupt nicht zu bewältigen waren, doch irgendwie bekam sie am Ende doch alles auf die Reihe. Bewundernswert.
Der Weihnachtsbaum hingegen war jedes Jahr derselbe. Ein künstliches Ungetüm gigantischen Ausmaßes, der bereits mit über tausend kleinen vorinstallierten Glühlämpchen ausgeliefert wurde und den meine Mutter nur noch mit dem üblichen Familienschmuck zu dekorieren brauchte: vergoldete Nüsse, ellenlange Girlanden, rote Kugeln aus Plastik (die den höchst zerbrechlichen aus Glas in nichts nach standen, aber sicherheits- und verletzungstechnisch viel anspruchsloser waren) und natürlich Unmengen an Silberlametta, sodass wir noch alle im Februar unter einer leichten Bleivergiftung litten.
Das Geld für das große Festmahl sparten wir uns buchstäblich vom Munde ab; gab es doch bereits sechs Wochen vor dem heiligen Abend kaum etwas anderes auf dem Tisch als dünne Suppen und karges Brot. Ich sei ohnehin schon viel zu groß, wies mein Vater mich immer zurecht, wenn ich gegen die kümmerlichen Mahlzeiten zu protestieren wagte. Vielleicht hatte er sogar recht. Vielleicht war er aber auch nur ein Arsch.
Zwei Tage vor dem großen Tag fing meine Mutter dann endlich an zu kochen und zu backen, dass es eine wahre Pracht war. Selbst meinem Vater, dem durch die wochenlange Suppen-Zwangsdiät schon ganz anders zumute war, lief das Wasser literweise aus dem Munde. Mutter bereitete nebenbei auch die Menüpläne und Sitzordnungen vor, denn alles musste seine ganz bestimmte Ordnung haben. Schließlich konnte Onkel Markus nicht neben Tante Angelika platziert werden, da die beiden nicht miteinander verheiratet waren, obwohl schon lange gemunkelt wurde, dass sie ein ziemlich ungezwungenes Verhältnis zueinander hegten und hemmungslos dem horizontalem Tango frönten; eine Redewendung, mit der ich damals rein gar nichts anfangen konnte.
Animositäten, Abneigungen und andere Nichtigkeiten wollten also gut bedacht werden, damit es mit Sicherheit das friedliche Weihnachtsfest werden würde, welches meine Eltern sich wünschten, auch wenn die Aussicht, es in darauf folgenden Jahren mit einer stark verminderten Verwandtschaft zu tun zu haben, natürlich äußerst verlockend war.
Ein weiteres Problem stellten die Geschenke dar. Natürlich konnten es sich meine Eltern auf keinen Fall leisten, alle Verwandten mit Geschenken zu bedenken. Deshalb erklärten sie den Onkeln und Tanten, Großeltern, Cousinen und Cousins, dass wir selbst nur den Großeltern und den Kindern etwas schenken würden, deren Zahl sich zum Glück im überschaubaren Rahmen hielt, bis Tante Margarete sich 1990 tatsächlich erdreistete, gleich sechs stramme Buben auf einmal in die Welt zu setzen. Der übrigen Verwandtschaft stand es hingegen frei, sich munter nach Lust und Laune und Größe des Geldbeutels zu beschenken, sodass das Verteilen der Geschenke im Wohnzimmer unseres Hauses am Heiligabend eigentlich von einem Verkehrspolizisten hätte geregelt werden müssen.
Unter dem künstlichen und kitschigem Kunstbaum, den meine Mutter immer großzügig mit Fichtennadelduft einsprühte, bis einem der Kopf vor lauter Nadelwald brummte, lagen jedes Jahr eine große Anzahl von weihnachtlich verpackten Geschenken, die allerdings vollkommen leer waren. Mogelpackungen oder Fake-Geschenke, wie ich sie immer zu nennen pflegte. Damit dies jedoch niemanden auffiel, spendierte meine Mutter ihnen jedes Jahr eine neue Schicht Geschenkpapier und – wo nötig – eine neue Schleife. Meine Eltern achteten stets mit Argusaugen darüber, dass keines dieser Nicht-Geschenke versehentlich von einem übereifrigen Mitglied der Familie ausgepackt wurde, streichelten mir bei Nachfrage über das Wuschelhaar und behaupteten, das seien noch Geschenke für mich, die ich allerdings erst einen Tag später auspacken dürfe. Man wolle die Eifersüchteleien unter den Kindern ja nicht noch anheizen, flüsterten sie den Tanten und Onkeln zu, die daraufhin verständnisvoll den Kopf senkten. Ich bin sicher, dass ich das einzige Kind war, dass ohne Zweifel jedes Jahr weniger bekam als seine Vettern und Cousinen.
Der Schein musste gewahrt bleiben. Darin waren meine Eltern wahrlich Weltmeister. Und genau das war der Hebel, den ich 1987 nutzen wollte, um endlich das zu bekommen, was ich mir wünschte und nicht das, von dem andere glaubten, ich würde es verdienen. Vorsichtig ließ ich in die vorweihnachtlichen Gespräche mit meinen Verwandten meinen Wunsch nach einem PC einfließen. Somit war jeder darüber informiert und erwartete dementsprechend auch von meinen Eltern, dass sie mir genau dieses Geschenk besorgten, damit es keiner von ihnen tun musste.
So nahte der Weihnachtsabend und wir erwarteten geschniegelt und gestriegelt die Invasion der Verwandten, denen man im übrigen Jahr so erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Stolz trieb manchmal recht eigensinnige Blüten.
Endlich waren sie da. Während ich noch im Flur mit falschen Pelzmänteln und dicken Anoraks, Schals und Fäustlingen kämpfte, wurden in der guten Stube die ersten alkoholischen Getränke gereicht, von denen im Laufe des Abends noch reichlich fließen würden, bis der kollektive Filmriss am nächsten Tag gesichert war. Meine jüngeren Vettern und Cousinen rannten vergnügt durch die weitläufigen Flure unseres Hauses, was mich der lästigen Pflicht enthob, mich mit ihnen beschäftigen zu müssen.
Nachdem der alljährliche Baum ausreichend von jedermann bewundert und alle Geschenke darunter verstaut worden waren, baten meine Eltern schließlich zu Tisch, der sich unter all den Speisen regelrecht bog, die meine Mutter in tagelanger Arbeit vorbereitet, gekocht und gebacken hatte. Es gab Rotkraut und Knödel, Bohnen und Wirsingkohl, Kartoffelstampf und drei verschiedene Soßen dazu, eine dicker als die andere. Frisch gebackene Brötchen, Ingwerbutter, mehrere herrlich duftende Aufläufe und noch vieles mehr, an das ich mich schon gar nicht mehr erinnern kann. Für die Kinder hatte meine Mutter extra Pommes Frites zubereitet, die mit Unmengen von Ketchup gereicht wurden. Die Krönung des ganzen Menüs jedoch war der wohl größte Puter, den ich und jeder andere im Raum jemals gesehen hatten. Er thronte mit einer goldbraunen Kruste bedeckt in der Mitte unserer Essenstafel wie ein Wesen aus einer anderen, viel größeren Welt. Ich erinnere mich noch gut daran, dass mein Vater sich sieben Tage vor dem Fest fast den Rücken verrenkt hatte, als er dieses Riesenvieh aus dem Auto in die heimische Tiefkühltruhe verfrachten wollte, die er letztlich auch nur mit Not und Mühe zubekommen hatte.
Nun stand er, wie es in unserer Familie seit Anbeginn – also seit drei Jahren – so Brauch war, an der Kopfseite des Tisches mit Tranchiergabel und Messer bewaffnet bereit, um freudestrahlend den Puter in mundgerechte Stücke zu zerteilen …
Da klingelte es an der Tür.
Meine Mutter sah meinen Vater an, der ließ sogleich seinen Blick über die Anwesenden am Tisch schweifen und ich konnte am Flackern seiner Augen beobachten, wie er im Geiste rasch die Verwandtschaft durchzählte und in leichte Panik verfiel. Hatten wir etwa ein Familienmitglied vergessen? Drei Verwandte waren im Laufe des vergangenen Jahres verblichen, eine Tante hatte die Scheidung eingereicht, dafür hatten zwei bislang überzeugte Singles den Bund fürs Leben geschlossen und ein Paar hatte zwei kleine Kinder adoptiert: Yoshi, ein Junge von den Philippinen und Abebi, ein Mädchen aus Kamerun, mit denen ich aufgrund der noch fehlenden Sprachkenntnisse allerdings erst im Laufe der folgenden Jahre richtig warm werden sollte. Unter dem Strich lagen wir also bei plus minus Null, was die Größe der Familie anging.
Wer also stand da vor unserer Tür und begehrte Einlass? Schließlich seufzte meine Mutter und brach so die plötzlich entstandene, peinliche Stille am Tisch. Sie nickte mir zu und ich beeilte mich, ihrer stummen Aufforderung sofort nachzukommen.
Vor der Tür stand eine Dame. Ich sage bewusst Dame und nicht Frau, denn genau das war sie: eine wahre Dame, hochgewachsen, opulent frisiert, die ebenmäßigen, fast elfengleichen Gesichtszüge nur mit einem Hauch Makeup versehen, so lächelte sie mich mit perfekten Zähnen an, die noch dem weißesten Schnee Konkurrenz gemacht hätten. Ohne auf eine Aufforderung meinerseits zu warten, setzte sie ihre sündhaft teuren, mit Kaschmir gefütterten Stiefelletten in Bewegung und überschritt würdevoll die Schwelle unseres Eigenheims. Ihren graublauen Nerzmantel mit hohem Kragen ließ sie elegant von ihren Schultern in meine Hände gleiten, um sich gleich darauf mit graziösen, aber entschiedenen Schritten in Richtung Verwandtschaft aufzumachen.
Oh mein Gott! Ich war ganz hin und weg. Der Pelz war tatsächlich echt! Meine Hände, die bislang nur billiges Pelzwebimitat hatten berühren dürfen, spürten den Unterschied sofort. So flauschig und samtig, am liebsten hätte ich mein Gesicht stundenlang darin vergraben, doch ein lauter Aufschrei aus dem Esszimmer schreckte mich auf. Rasch verstaute ich den Mantel an der Garderobe, wo er recht fehl am Platze wirkte bei all den anderen billigen Kleidungsstücken, und eilte zurück an den Esstisch. Dort lagen sich die rätselhafte Fremde und meine Mutter, die lauthals schluchzte, in den Armen.
Die fremde Dame war niemand anderes als die jüngste Schwester meiner Mutter, die 1973 ihrem Liebsten, einem bettelarmen Soldaten, in seine amerikanische Heimat gefolgt war, als man dessen Militärbasis in Deutschland aufgelöst hatte. Offensichtlich war es ihr dort gut ergangen. Sie hatte geheiratet. Allerdings nicht den Soldaten, der ihr nur ein Leben in einem Trailer-Park in seiner Heimat Wisconsin hätte bieten können, sondern einen reichen texanischen Herrn, der sein Geld mit Öl und anderen, teils nicht ganz legalen Geschäften erwirtschaftet hatte. Leider war er im letzten Jahr viel zu früh verstorben, sodass meine Tante aus Amerika sich wieder auf ihre deutschen Wurzeln besonnen hatte und nun in unserem Esszimmer stand, wo sie uns unter Tränen und mit einem süßen amerikanischen Akzent in Kurzform berichtete, was sie in den letzten vierzehn Jahren so alles erlebt hatte.
Mein Vater blähte die Nase. Diese Tante duftete nicht nur nach Chanel No5, nein, sie stank regelrecht nach Geld. Nach harten, amerikanischen Dollars genauer gesagt und es fiel mir nicht schwer, den plötzlichen Glanz in seinen Augen als das zu interpretieren, was es letztlich war: Gier. Eine neue Gans, die man schröpfen konnte, hatte sich in seine Gefilde verirrt und es war fast wie im Märchen. Man musste es nur geschickt genug anfangen, dann würde diese amerikanische Gans eine Menge goldene Eier legen.
Sofort startete mein Vater eine Charme-Offensive, die ihresgleichen suchte.
Überschwänglich überließ er meiner Tante Sisi, die eigentlich Elisabeth hieß und in den Staaten nur Lisa gerufen wurde, seinen Platz als Oberhaupt der Familie und drückte ihr ehrfürchtig das Tranchierbesteck in die Hand, das sie mit dem ihr eigenen unvergleichlichen Lächeln entgegennahm und mit einer Effizienz und Eleganz zu händeln wusste, dass es den anderen am Tisch inklusive mir die Sprache verschlug.
Das Schmausen konnte endlich beginnen. Nach dem Essen ging es sogleich in die gute Stube, wo meine Mutter Jakobs-Kaffee mit Schuss und leichtes Gebäck anbot, bevor es endlich an die lang ersehnte Bescherung ging. Herrje, war das ein Zerren und Reißen! Da flog Geschenkpapier durch die Luft, Schleifen wurden von Pappdeckeln gerissen und jedes Geschenk nach dem Auspacken mit dem ihm gebührenden „Ah“ und „Oh“ quittiert. Zu guter Letzt bekam auch ich mein Geschenk, ein längliches, großes Paket, dessen Form mein Herz höher und schneller schlagen ließ.
Konnte es sein? Sollte dies tatsächlich der von mir ersehnte Amiga PC sein? Das Papier war rasch herunter und da lag die Verpackung vor mir. Commodore Amiga 500 Personal Computer stand auf dem freigelegten Karton, daneben ein Bild des PCs mit stilisiertem Regenbogen. Ich war den Tränen nah, doch bevor ich mein Geschenk weiter auspacken konnte, legte mein Vater seine Hand auf meinen Arm.
„Wir packen den PC morgen früh aus und stellen ihn auf, einverstanden?“, fragte er mich freundlich und mit einem Blick, der keine Widerrede duldete.
Ich vestand schlagartig, nickte nur und versuchte krampfhaft, mein Lächeln und das Strahlen in den Augen nicht zu verlieren. Der Familie zuliebe.
Mein Geschenk sah ich jetzt mit ganz anderen Augen. Dies war tatsächlich lediglich die Verpackung eines Amiga 500, nur ein weiteres Nicht-Geschenk, wahrscheinlich mit schweren Büchern befüllt, damit das Paket das Gewicht eines PCs erreichte. Ich war wieder einmal vom Leben und vor allem von meinen Eltern nach Strich und Faden betrogen worden. Dieser Augenblick war genau der Moment, als etwas in mir brach, als Weihnachten für mich zu sterben begann.
Hätte es noch schlimmer kommen können an jenem Abend, als all meine Träume platzten und ich mit von Tränen verschleierten Augen, die allgemein für ein Zeichen der Freude gehalten wurden, meine Cousinen und Vettern um ihre tollen Geschenke beneidete? Meine Eltern selbst zufrieden und voller Stolz über das Vollbrachte auf dem Sofa saßen, die neue Schwägerin bzw. Lieblingsschwester Sisi zwischen sich, als wäre sie nie weg gewesen?
Es kam schlimmer, aber nicht nur für mich.
Ausgerechnet der amerikanische Zweig der Familie setzte sich bei dem übrigen Rest der Verwandtschaft schließlich bei Vanillekipferln, Dresdner Christstollen, Marzipangebäck und Jakobs-Kaffee unerwartet und völlig überraschend in die Nesseln, als sie - eher beiläufig - die Bemerkung in die rege Unterhaltung und Verbreitung von Klatschgeschichten und Skandälchen einfließen ließ, ich würde dem guten Dorian ganz außergewöhnlich ähnlich sehen.
Überhaupt würde sie Dorian bei der Weihnachtsfeier sehr vermissen; ob mein Vater nicht wüsste, warum sein Bruder heute Abend nicht auch anwesend sei und was er wohl gerade so mache.
Die Stille danach war geradezu greifbar.
Die Reaktion meiner Familie auf ihre Ausführungen hätte jeder Aufführung des Ohnsorg-Theaters locker das Wasser reichen können. Vergesst Comedy, all die Ingo Appelts und Dieter Nuhrs dieser Welt. Das, was nun in unserem heimischen Wohnzimmer geschehen sollte, war sozusagen die Urform der heutigen Live-Comedy, unverfälscht und so unvorhersehbar, besser hätte es sich die sogenannten Comedians von heute nicht in ihren kühnsten Träumen ausmalen können.
Mein Vater, der ansonsten ein ruhiger und eher in sich gekehrter Mensch war, der noch nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun konnte ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, lief zunächst nur ganz leicht rot an, während sich seine Stirn- und Schläfenadern allmählich zu voller Pracht und Fülle herauszubilden begannen, was auf seiner schon weit fortgeschrittenen Stirnglatze geradezu phänomenal aussah. Dann erst ging sein etwas fleckiger Teint in ein tiefes Dunkelrot über, das einen leichten Stich ins Violette aufwies und mir gar nicht gesund erscheinen wollte.
Ganz im Gegensatz dazu verhielt sich meine Mutter. Es schien, als bestünde zwischen ihr und meinem Vater eine gewisse Wechselwirkung der Farben, denn in dem Maße, in dem das Blut in das Gesicht meines Vaters wallte, stürzte es gleichermaßen aus dem meiner Mutter, die damit unbewusst der erst vor kurzem frisch geweißten Wohnzimmerwand erhebliche Konkurrenz machte.
Während meine Großmutter väterlicherseits beinahe an den gierig in ihren Schlund hineingeschaufelten Weihnachtskeksen erstickt wäre, wenn nicht mein selbstloser Cousin Walther beherzt eingegriffen und ihr mit dem "Heimlich-Griff" das Leben und sich selbst das Erbe gesichert hätte, steckten meine unzähligen, fast schon Legion zu nennenden Tanten die Köpfe zusammen, um einem Taubenschlag gleich in unheilvolles Gurren und Tuscheln zu verfallen.
Mein Onkel Stefan hingegen sah fasziniert dem großen Brocken nach, bestehend aus einer eklig anmutenden Masse aus durchgespeichelten zerkleinerten Mandeln, farbigen Zucker und Lebkuchenteig, den der Heimlich-Griff der Kehle meiner Großmutter entlockt hatte und der – eine fast perfekte Parabel nachahmend - durch das Wohnzimmer schoss, um sich ausgerechnet in dem Gesicht meiner Großmutter mütterlicherseits niederzulassen, die es ihrerseits aufgrund dieser vollkommen unerwarteten Attacke sehr eilig hatte mitsamt neuer Gesichtsdekorierung in Ohnmacht zu fallen.
Dieser Vorfall wiederum war ein Anblick, der zwei meiner Cousinen dermaßen auf den Magen schlug, sodass sie ihre halbvollen Plätzchenteller prompt auf dem eierschalenfarbenen Veloursteppich - den Stolz meiner Mutter - purzeln ließen und sich fast ebenso prompt auf die australischen Fächerpalmen direkt hinter sich - ein weiterer Stolz meiner Mutter - übergaben, was meine Mutter dazu veranlasste, dem Kalkton ihres Gesichts noch eine Nuance weiß mehr hinzuzufügen.
Vollkommen unverständlich hingegen blieb mir jedoch die Reaktion des zweiten bzw. - wie ich ja nun erfahren hatte - dritten Bruders meines Vaters, der wie von Furien gehetzt von seinem Platz aufsprang und durch das Zimmer hastete, um sich im Badezimmer einzuschließen, von wo noch eine geraume Zeit später gedämpftes, aber deutlich hörbares Gelächter zu hören war. Ich habe bis heute nicht in Erfahrung bringen können, weshalb er lachte.
Dem ganzen Spektakel setzte ich, der ich bislang relativ unbeschadet mitten im Epizentrum dieses Familien-Bebens gestanden hatte, letztendlich das so genannte Sahnehäubchen auf, als ich zu fragen wagte, wer denn nun dieser besagte Dorian eigentlich sei und was er denn so schlimmes verbrochen hätte, das die Familie so auf ihn reagiere.
Mein Vater, dessen Gesicht immer noch eine frappierende Ähnlichkeit mit einer überreifen Tomate hatte, schnappte erst nach Luft und dann nach mir. Nach einigen Maulaffen, die er hart aber gerecht auf meine Wangen verteilte und nach denen ich zumindest an den Stellen, an denen sich Vaters Hand satt abgezeichnet hatte, eine ähnlich ungesunde Hautfarbe besaß wie er, schickte er mich ohne Antwort und Umschweife auf mein Zimmer.
Die Situation im heimischen Wohnzimmer beruhigte sich erst zwei Stunden später, nachdem meine Tante aus den Staaten unter Androhung grober körperlicher Gewalt durch die Familie das Haus verlassen hatte. Sie ging mitsamt ihrem wunderschönen Pelzmantel und ihren Petrodollars davon und ich sollte sie nie wieder zu Gesicht bekommen.
An jenem Abend lag ich noch lange wach und grübelte darüber nach, was geschehen war. Erst Jahre später fand ich heraus, welches Geheimnis meinen ominösen Onkel Dorian umgab, das von meiner Familie so lange sorgsam gehütet und totgeschwiegen worden war.
Onkel Dorian war das schwarze Schaf der Familie gewesen. Nicht nur, dass er sich stets jeglicher Autorität widersetzt hatte, sei es nun öffentlich oder innerhalb der Familie, nein, er hatte es sogar gewagt mit sechzehn Jahren mit einem Freund auf einer Familienfeier aufzutauchen, der eindeutig mehr als nur ein Freund war, was beide genüsslich und ganz ohne Scheu auch vor aller Augen demonstrierten.
Nun, heutzutage ist ein schwuler Onkel nun wirklich kein großes Thema mehr, doch Anfang der siebziger Jahre kam diese Tatsache einem unerhörten Skandal gleich, an dem Familien zerbrechen konnten. Was in meiner um ein Haar auch geschehen wäre.
Der Skandal in unserer Familie beruhte allerdings nicht alleine darauf, dass sich Dorian zu Männern hingezogen fühlte, sondern vielmehr auf eine unglückliche Verkettung von Umständen, die letztlich dazu führte, dass Dorian in der Silvesternacht 1971 sturzbetrunken, doch noch im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte, versehentlich an das von seiner Warte aus gesehene andere Ufer schwamm und dort meine Mutter schwängerte, die zu der Zeit pikanterweise die Freundin seines Bruders war. Mit anderen Worten: Dorian war mein wirklicher Vater.
Dies sollte ich jedoch - wie gesagt - erst viel später und unter teils bizarren Umständen selbst herausfinden. Allerdings ist das eine andere Geschichte und soll deshalb auch ein anderes Mal erzählt werden.
Gerade komme ich zu Hause an und stolpere an meiner Türschwelle über ein wahrhaft monströses Paket. Es sieht angestoßen aus und die Farbe ähnelt einem vergilbten Foto, wie man sie in Museen zu sehen bekommt. Es sind etliche Retourenstempel darauf zu erkennen, welche die ursprüngliche Adresse und somit meinen Namen fast vollständig verdecken, doch der Absender ist noch deutlich lesbar. Elisabeth Walker, Texas. Nach den Tagesstempeln zu urteilen hat dieses Paket eine Odyssee von annähernd siebenundzwanzig Jahren hinter sich. Ich beschließe, es mit in die Wohnung zu nehmen und dort auszupacken.
Das Paket enthält einen Amiga 500 inklusive Maus und Bildschirm. Zuletzt hat sich mein Wunsch also doch noch erfüllt. Vielleicht sollte ich Weihnachten noch eine zweite Chance geben...
(Dan)
Witchers Journal, Jg. 2, Nr. 5 vom 22.12.2014, S. 19-26
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