Geschichten


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Rabenherz


Kapitel 11

Ein Gewitter war aufgezogen und Tuomas wurde durch einen krachenden Donnerschlag aus dem Schlaf gerissen. Er gähnte und richtete sich dann leicht auf. Da er schon mal wach war, beschloss er sich schnell etwas zu trinken zu holen. Er streckte sich, rappelte sich dann langsam auf und tappte verschlafen in die Küche, wo er sich ein Glas Wasser eingoss.
Auf dem Weg zurück zum Wohnzimmer kam er am Schlafzimmer vorbei. Ob er mal nach Janni schauen sollte? Vielleicht war sie ja auch aufgewacht. Da die Tür sowieso einen Spalt weit offenstand, entschloss er sich, einfach mal nachzusehen und warf einen Blick ins Zimmer.

Anstatt einer schlafenden Janni entdeckte er jedoch eine zitternde, die sich die Decke bis zum Kinn hochgezogen hatte. „Oh nein, die Arme!“ Sie schien große Angst zu haben. Offenbar mochte sie keine Gewitter.
„Janni?“, fragte er leise, öffnete die Tür nun ganz und ging ein Stück ins Zimmer. Das Mädchen zuckte kurz zusammen und blickte in seine Richtung. „Keine Angst, ich bin's nur.“ Er kam zu ihr ans Bett und kauerte sich daneben. „Kannst du nicht schlafen?“ Sie nickte ängstlich. „Ich hasse Gewitter“, piepste sie mit leiser Stimme.
„Soll ich ein wenig bei dir bleiben?“, bot er an. Vielleicht würde sie dann weniger Angst haben. Wieder nickte sie und blickte ihn bittend an. „Gut.“ Er setzte sich auf die Bettkante, nahm vorsichtig ihre Hand, welche eiskalt war. Sie drückte seine sogleich fest.
Tuomas streichelte ihr mit der anderen Hand sanft durch das Haar. „Schhhh“, flüsterte er. „Du musst keine Angst haben.“ Wie sie so verängstigt dalag, weckte sie einen starken Beschützerinstinkt in ihm; nichts wollte er im Moment lieber tun, als ihr die Angst zu nehmen.

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So fest ich konnte drückte ich Tuomas' Hand. Hoffentlich tat ich ihm nicht weh. Ich hatte die Augen fest zusammengekniffen. Tuomas stich noch immer über meinem Kopf und ich merkte, dass dies meine Angst tatsächlich linderte und ich es nach wenigen Minuten sogar genießen konnte. Seine Berührungen waren sanft und weckten ein Kribbeln in mir. Auch seine flüsternden Worte wirkten beruhigend auf mich. Er hatte eine so wohlklingende Stimme. Trotzdem zuckte ich noch bei jedem Donnerschlag leicht zusammen.

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Seine Anwesenheit schien zum Glück tatsächlich etwas zu bewirken. Schon nach kurzer Zeit ließ Jannis Unruhe nach, auch wenn sie immer noch bei jedem Donnerschlag zusammenfuhr.
Doch zum Glück dauerte das Gewitter nicht lange an und schon bald waren nur noch die ans Fenster prasselnden Regentropfen zu hören. Das Mädchen hatte nun vollends aufgehört zu zittern und ihren Händedruck gelockert.
„Jetzt hast du's überstanden.“ Tuomas lächelte sie an als sie ihre bis jetzt fest geschlossenen Augen wieder öffnete. „Ich lass dich jetzt besser wieder schlafen.“ Er wollte aufstehen, doch sie hielt ihn weiter fest. „Kannst du nicht noch ein wenig bleiben?“, bettelte sie und sah ihn mit einem so herzerweichenden Blick an, dass er nicht in der Lage war, ihr zu widersprechen.
„Also gut.“ Wieder lächelte er. „Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist. Aber dann lass mich mich wenigstens richtig hinlegen und mir vorher meine Decke holen.“ Sie nickte. „Danke“, flüsterte sie und ließ seine Hand widerstrebend los. „Keine Panik, ich bin ja sofort wieder da“, meinte er lächelnd als er ihr Zögern bemerkte. Rasch stand er auf und beeilte sich seine Decke zu holen. Janni rutschte zur Seite, sodass er sich nun ganz aufs Bett legen konnte. Zum Glück war es ein Doppelbett!

Beinahe sofort griff sie wieder nach seiner Hand und drückte sie leicht. „Schlaf gut, Kleine. Träum was Schönes“, flüsterte er zärtlich, während er auf sie, auf den Ellenbogen gestützt, beobachtete. Janni hatte mittlerweile wieder ihre Augen geschlossen und schon nach wenigen Minuten war sie eingeschlafen. Tuomas beschloss einfach im Zimmer zu bleiben und über ihren Schlaf zu wachen, obwohl er selbst todmüde war. Er wollte Janni nicht alleine lassen.

Lange betrachtete er das Mädchen. Sie atmete ruhig und hatte ein Lächeln auf den Lippen. Wahrscheinlich hatte sie gerade einen schönen Traum. Sie sah so friedlich aus. So unschuldig. So wunderschön. Er verspürte das Bedürfnis sie wieder zu berühren, ihre Lippen abermals auf seinen zu spüren und sie im Arm zu halten. Doch dafür war jetzt nicht die richtige Gelegenheit. Sie hatten noch so viel Zeit miteinander, und falls seine Träume wirklich wahr sein sollten, würde er alles tun, um ihr zu helfen und sie glücklich zu machen. Niemand würde ihr jemals wieder ein Leid antun.
Irgendwann war er schließlich ebenfalls weggenickt.

*

„Wie weit würdest du gehen, Tuomas? Wie weit? Um die zu retten, die du liebst. Um sie zu erlösen von dem Fluch, der auf ihr lastet. Ist deine Liebe stark genug, um sie zu befreien?“
Leise hörte er diese Stimme flüstern. Er wusste nicht, woher sie kam. Sie schien von allen Seiten her zu kommen und den ganzen Raum zu erfüllen, auch wenn sie nicht sehr laut war.

Er befand sich wieder in einer Höhle. Diese jedoch sah anders aus als die aus seinem letzten Traum. An einer Wand konnte er einen Spiegel erkennen, vor dem eine Vogelstange stand. Als er näher kam, erkannte er, dass auf dieser Stange ein Rabe saß, der in den Spiegel blickte. Doch anstatt eines gespiegelten Raben war die Gestalt eines Mädchens zu erkennen. Janni ... Traurig blickte sie hinter dem Glas hervor. Ihre Hände waren ausgestreckt und berührten den Spiegel, ebenso wie die Spitzen der Rabenflügel.

Nun wandte sich der Rabe um, blickte in seine Richtung. Die im Spiegel gefangene Janni ahmte den Raben nach, blickte sein Spiegelbild an. Er blickte in die Augen des Raben und sah darin genauso tiefe Verzweiflung wie in Jannis ...

*
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Es war bereits Mittag, als ich erwachte. Langsam schlug ich die Augen auf und blinzelte verschlafen. Die Sonne schien hell ins Zimmer und blendete mich, weshalb ich mich auf die andere Seite drehte. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dort Tuomas zu entdecken. Ich erschrak, zuckte zurück und konnte einen kleinen Aufschrei nicht unterdrücken. War er etwa die ganze Nacht bei mir geblieben?
Das hatte ihn geweckt, denn nun schlug auch er die Augen auf. „Guten Morgen“, murmelte er gähnend als er mich anblickte. „Morgen“, erwiderte ich leise, noch immer etwas verstört. Er hatte sich inzwischen halb aufgesetzt und streckte sich. „Was guckst du denn so erschrocken?“ Er grinste mich an. „Wie würdest du denn gucken, wenn du plötzlich jemanden neben dir im Bett liegen siehst?“ Ich versuchte, wieder einen normalen Gesichtsausdruck aufzulegen.
„Ach, wenn dieser Jemand genauso süß wäre wie du, hätte ich nichts dagegen!“ Tuomas lachte. „ Aber du hast ja recht. Du hast ja nicht wissen können, dass ich immer noch im Zimmer bin. Tut mir leid, dass du dich so erschreckt hast. Ich konnte dich gestern einfach nicht alleine lassen“.
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte ich mit geröteten Wangen. ER hatte mich gerade süß genannt!!!!
„Übrigens: Danke, dass du mich gestern beruhigt hast.“ Ich lächelte ihn an.

„Nichts zu danken. Freut mich, dass es was genützt hat.“ Er lächelte ebenfalls und stand dann auf.
„Ich mach uns mal Frühstück“, meinte er. „Wo die Toilette ist, weißt du ja.“ Ich nickte. „Gut. Dann bis gleich!“ Er verließ das Zimmer.

Ich blieb noch einen Moment liegen, und grinste von einem Ohr bis zum anderen, am liebsten hätte ich einen kleinen Freudentanz aufgeführt. Er hatte mich SÜSS genannt. Dann rappelte ich mich ebenfalls auf und machte mich auf den Weg ins Bad. Dort angekommen warf ich als Erstes einen Blick in den Spiegel. Ich sah nicht gerade anziehend aus. Zerzauste Haare, leichte Augenringe, verschmierte Schminke und ein verschlafener Gesichtsausdruck. Na super. Ein Wunder, dass Tuomas bei meinem Anblick keinen Schreck bekommen hatte. Ich atmete tief durch und versuchte, mich wieder einigermaßen zu restaurieren.

Nach einer kleinen Weile hatte ich das schließlich auch geschafft, verließ das Bad wieder und machte mich auf den Weg in die Küche, in der Tuomas bereit das Frühstück auf den kleinen Esstisch geräumt hatte. „Hei. Da bist du ja.“ Er lächelte mich an. „Setz dich doch.“
Er deutete auf einen der drei Stühle, auf dem ich gleich darauf auch Platz nahm. Er setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Ich schnappte mir ein Brötchen aus dem Korb, der in der Mitte des Tisches stand. „Wann musst du denn zurück im Internat sein?“, fragte Tuomas, während er Butter auf seines strich.
Jetzt musste ich schon wieder lügen. „Sie meinten, sie könnten mich erst morgen Nachmittag abholen und Busse fahren am Sonntag leider auch nicht ...“
„Hmmm ... Also wenn du willst, könntest du so lange hier bleiben. Ich hab ja genug Platz“, schlug er vor, was mich sehr freute. „Wirklich? Das wäre toll. Vielen Dank!“ Ich strahlte ihn an. Ich konnte also noch einen ganzen Tag mit ihm verbringen!
„Klasse. Dann machen wir uns heute noch 'nen schönen Tag. Was hältst du von einem Spaziergang nach dem Frühstück?“, fragte er und biss in sein Brötchen.
„Gerne.“ Ich lächelte. „Kann ich mal die Marmelade haben?“

Wenig später machten wir uns auf den Weg. Die Sonne war hinter den dunklen Wolken hervorgekommen und strahlte hell auf uns herab. Trotzdem sah es nach Regen aus. Ich hoffte, dass das Wetter noch eine Weile halten und es auf keinen Fall noch ein Gewitter geben würde. Wobei ... sich von Tuomas trösten zu lassen hatte auch etwas ...

Da es die ganze Nacht hindurch geregnet hatte, waren die Wege dementsprechend matschig. Wir versuchten die größten Pfützen zu umgehen oder darüber zu springen, was uns leider nicht immer gelang. Vor allem mir nicht.
Doch das trübte unsere Stimmung nicht. Im Gegenteil, es machte Spaß. Wir waren übermütig und fühlten uns frei. Wie die kleinen Kinder versuchten wir lachend den Pfützen auszuweichen oder uns durch einen gezielten Sprung in eine Pfütze gegenseitig nass zu spritzen. Dass unsere Schuhe nach kurzer Zeit völlig durchnässt waren, störte uns nicht.
Bald hatten wir ein kleines Wäldchen erreicht, das sich nahe Tuomas' Haus befand.

Durch den Regen war die Luft angenehm frisch. Besonders hier im Wald. Das goldene Sonnenlicht strahlte durch die Blätter und schaffte eine schöne Stimmung, die unsere Laune noch besser machte. In unzähligen Spinnennetzen schimmerten Regentropfen und verwandelten sich in Diamanten. Ich hörte es im Unterholz rascheln und in den Bäumen krächzten Raben. Echte Raben, die frei waren und ein Menschendasein gar nicht kannten und somit auch niemals vermissen würden.

(Ani)

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Witchers News, Jg. 3, Nr. 15 vom 01.02.2011, S. 31-34


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